Sturmfrei – allein mit Hund
Soll ich euch mal die kürzeste Horrorgeschichte erzählen, die ich kenne? Lou und ich sind allein. Ganz allein! Das ist keine Premiere, aber immer wieder dramatisch. Vier Mal am Tag mit dem Hund raus gehen, zwei Mal füttern und sie 24/7 bespaßen, ein Fulltime-Job ist nichts gegen Hundesitter spielen. Um meine Erfahrungen mit der Welt zu teilen, werde ich sie hier in einer Art Logbuch festhalten. Auf das auch meine Nachfolger wissen: Schafft euch niemals ein Riesenkind mit Fell an.
Tag 1: Immer wenn Lou und ich allein sind, nehme ich mir fest vor, sie jeden Tag physisch wie kognitiv auszulasten. Ich krame diverse Holzspielzeuge und Trainingsbücher heraus und gehe auf jeden Spaziergang nur noch ausgerüstet mit diversen Leckerlis, einem Klicker, 3 Wurfbällen und einer Frisbee. Spätestens an Tag 3 hängen wir den ganzen nur noch ab, und das Maß aller Dinge ist es abends auf der Couch zu sitzen, ein Bier zu trinken und Germany’s next Topmodel zu gucken. Ich scherze natürlich nur. Lou darf nicht auf die Couch.
Aber da wir ja erst bei Tag 1 sind, will ich zumindest mit gutem Vorsatz heran gehen, zwei Wochen lang das Hundevergnügen in Person zu sein. Meine Vorsätze verflüchtigen sich allerdings bereits, als ich am ersten Morgen herunterkomme und mir Steppenläufer von Haaren entgegenfliegen. Lou ist nämlich schon wieder (oder immer noch?!) im Fellwechsel (nachzulesen hier). Ich beginne den Tag also statt mit einem Kaffee, mit dem Kampf mit dem Staubsauger. Und Madame wartet schon ungeduldig auf unsere erste Exkursion nach draußen. Dass ich auch Bedürfnisse habe und eigentlich eine Hausarbeit zu schreiben habe, interessiert weder den Hund noch seine Fellbüschel, die, so groß sind, dass es genauso gut selbst kleine Lou-Klone sein könnten.
Das Prozedere wiederholt sich an diesem Tag noch vier Mal. Ich hab schon keine Lust mehr.
Tag 2: Heute Mittag haben wir zum Gassigang eine Schlamperrolle gefüllt mit Käsestückchen mitgenommen. Der Plan ist Lou an ihre jahrelange Hundeschulausbildung zu erinnern und sie beim SEK anheuern kann, sobald wir wieder zu Hause sind. Und ich muss wirklich gestehen, dass Lou gut ausgebildet und gehorsam ist. Trotzdem hilft es, sie ab und an mal wieder mit einem Leckerli zu motivieren auch wirklich sauber Fuß zu laufen. Auf unserem Weg gehen wir an zwei Damen vorbei. Die eine angelehnt an einen Kinderwagen, die andere hängt an einem wild umherspringenden Dalmatiner. Der Kollege hat offensichtlich kein Interesse an dem ihm ins Ohr geschriene „Sitz“, sondern schmeißt sich abwechselnd wie wild in die Leine oder dreht sich um seine eigene Achse und touchiert dabei öfters Mal Frauchens Beine, sodass die schon merklich ins Schwanken gerät. Lou fokussiert nur mich und den Käse in meiner Hand und wir laufen problemlos vorbei. Hinter mir höre ich die Dalmatiner-Besitzerin tuscheln: „Ph, mit nem Leckerli könnten wir das auch.“ Achsoooo, für mich sah das mehr so aus, als ob sie so gar keine Kontrolle über ihren Hund hätte, aber ich schreibe hier ja auch aus einem sehr subjektiven Blickwinkel. Verzeihung.
Tag 3: Lou und ich sitzen abends vorm Fernseher und gucken “Die Höhle der Löwen”. Der Titel der Sendung verrät ungefähr meinen Gemütszustand. Nach der schätzungsweise achten Werbung wird eine App vorgestellt. “MyDog365”, die Hundebesitzer jeden Tag eine Aufgabe stellt, die man einfach in den Alltag mit dem Hund einbinden kann. Das muss Schicksal sein! Ich hab die App sofort heruntergeladen und damit die in der Sendung vorgestellten Downloadzahlen um mindestens eins verzerrt. Ich bin frohen Mutes und voll neuer Hoffnung. Ab morgen wird alles besser…
Tag 4: Uns begegnet auf unserem mittäglichen Spaziergang im schüttenden Regen (aber wir sind nicht aus Zucker) ein Schäferhundwelpe, dessen spitze Ohren länger sind als seine Beine. Ich rufe Lou ins Fuß, was sie, natürlich auch beanstandungslos macht und wir laufen an deinem kleinen Kollegen (der wirklich so zuckersüß ist, dass er vermutlich wirklich davongeschwemmt wurde, wir haben ihn seitdem nicht wieder gesehen…) vorbei. Sein Frauchen raunt ihm ins Ohr: „Schau mal, so brav willst du auch mal werden, hm?“ Lou lacht ihr diabolischstes Lachen. Nein, das wollen Sie bestimmt nicht.
Tag 5: Heute ist Wochenende. Heute haben wir eine Meeeenge Zeit unsere neue App auszutesten. Vorher probieren wir aber die alten Holzspielzeuge aus, die wir früher mal für unseren Berger Leo angeschafft haben. Das Prinzip ist simpel. Es gibt drei Einbuchtungen für Leckerlis, die von Holzrollen bedeckt sind. Man muss die Holzrollen hochschieben, um an die Leckerchen zu kommen. Um das ganze schwieriger zu machen, muss auch noch eine lange Holzrolle mit einem Seil herausgezogen werden, sowie zwei kleine Rollen, die quasi quer in dem Spielzeug stecken. Nun ja, es gibt ja Kopfmenschen und Herzmenschen. Ich glaube, Hunde gibt es davon auch. Leo war eher der Analytiker. Er hat das Spiel nach Anleitung gelöst und danach auch wieder aufgeräumt. Lou hat, zu ihrer Verteidigung, die Anleitung ja nicht gelesen. Und will die eingesperrten Leckerlis unbedingt so schnell wie möglich befreien. Und sei es mit brachialer Gewalt. Während mir der Holzklötze um die Ohren fliegen, öffne ich auf meinem Handy die neue App, um mir die erste Aufgabe anzuschauen. “Verstecken Sie Leckerlis in einem Karton und lassen Sie den Hund suchen.” Super…
Tag 6: Ich schrecke um 8 Uhr aus dem Schlaf, weil Lou eigentlich schon wieder drei Mal raus gewollt hätte. Dass ich eher wenig Schlaf bekommen habe – absolut irrelevant. Ich spring also mitsamt Schlafanzug in meinen schönsten Jogginghoseneinteiler, streife mir die Regenjacke über, reiße die Tür auf und …kein Hund da. Kein Hund, der schon verzweifelt auf mich wartet. Kein Hund, der winselnd und mit verknoteten Beinen vor der Tür steht. Ich finde Madame im Körbchen. Sie schläft den Schlaf der Gerechten. Sie merkt noch nicht mal, dass ich in voller Montur, ausgehbereit vor ihr stehe. Sie hat ja auch Recht. Ist ja schließlich Sonntag. Ich geh auch wieder ins Bett.
Fünf Minuten später höre ich ein Fiepen und Tapsen vor meiner Tür. Lou will raus.
Tag 7: Über Nacht ist ein Wunder geschehen. Es liegen keine Haare mehr rum. Kein Fell, keine Büschel, keine Lou-Klone aus Haare. Nichts! Ich bin skeptisch. Kann ein Montag wirklich so gut anfangen?
Tag 8: Immer noch nichts. Lou muss sich die Haare fest getackert haben. Oder den Klebstoff leer gemacht haben. Es ist zu schön um wahr zu sein!
Tag 9: Es war zu schön um wahr zu sein.
Tag 10: Wir gehen nachmittags spazieren, und nehmen einen Ball mit, um Lou mal richtig auszupowern. Keinen Ball an der Leine zum Werfen, sondern so eine Ballschleuder, mit der man den Ball aufheben kann, ohne sich die Finger dreckig zu machen. Eigentlich ist der Vorteil gegenüber dem Ball an der Leine, dass auch sportlich minderbemittelte und solche, die in der Grundschule bei den Bundesjugendspielen immer nur eine Teilnahmeurkunde bekommen haben, damit auch weit werfen können. Ich werfe auch weit.
Auf der Hälfte unseres Weges begegnet uns eine bekannte Boxer-Hündin. Die beiden rennen aufeinander los und stehen dann wie gebannt voreinander. Lou lässt ihren Ball fallen, um die andere Hündin zu begrüßen. Just in dem Moment schnappt die andere auch schon nach Lous Ball und rennt weg. Lou völlig perplex, schaut mich an. Ich hol den Ball bestimmt nicht. Selbst in Schuld; und überhaupt- mit meiner Wurfschleuder bekomm ich den Ball bestimmt nicht aus den Lefzen der Boxerin herausoperiert.
Eine gute Viertelstunde stehen wir auf dem Weg. Die Boxerhündin samt Ball läuft im Uhrzeigersinn um mich herum, ihr Besitzer läuft ihr hinterher. Lou steht neben mir, dreht sich- gegen den Uhrzeigersinn- und bellt abwechselnd Boxerin, Besitzer und Ball an. Gedanklich habe ich den Ball schon drei Mal der Boxerhündin geschenkt. Wir bekommen ihn dann doch wieder. Der Boxerin-Besitzer reißt der Hündin den angesabberten Ball aus dem Maul und kommt mir vor Stolz strahlend mit ausgestrecktem Arm entgegen und überreicht mir feierlich seine Trophäe- den Ball. Ich nehme ihn entgegen, mit der Hand. Natürlich. So viel zur Wurfschleuder…
Tag 11: Lou ist heute Büro-Hund. Und so ziemlich einer der Entspanntesten, die ich kenne. Außer wenn sich jemand ihrem Hof nähert (der Ecke zwischen Schreibtisch und Fenster, in der sie liegt). Dieses Stück Land würde sie mit ihrem Leben verteidigen, typisch Hovawart eben. Dass es da absolut nichts zu verteidigen gibt, außer einem Stapel Arbeit, der gerne geklaut werden darf, interessiert sie nicht.
Den Rest des Tages habe ich hundefrei! Ich habe einen Hundesitter engagiert, familienintern, der sich erbarmt, den Hund abwechselnd zu bespaßen und zu langweilen, damit ich einen Ausflug machen kann.
Tag 12 (frühmorgens): Ich stehe vor meinem Haus. Oder besser: Ich stehe vor den Überresten, die einmal mein Haus waren. In den Ecken lodern letzte Feuer der Verwüstung, einzelne Balken und ein Stützpfeiler liegen verstreut auf dem Boden. Ein einzelner Sparren vom Dach hängt in den ehemaligen Wohnraum hinein. In der Mitte steht meine Couch, auf der, friedlich schlafend, von Haaren umgeben, Hund und Sitter liegen. So stell ich es mir vor, wenn jemand sagt: „Reißt mir nicht die Hütte ab!“
Tag 12: Natürlich steht das Haus noch. Aufräumen muss ich trotzdem.
Tag 13: Letzter Tag sturmfrei! Das muss gefeiert werden. Ich bin dafür, dass wir mit einem Glas Sekt anstoßen, Lou für einen ausgedehnten Spaziergang. Wir einigen uns auf den Spaziergang. Wir machen eine halbe Tagestour durch kleine Wäldchen und große Bäche und während Lou durch Schlammpfützen springt, lasse ich unser Sturmfrei Revue passieren. Fazit: Es war nicht alles schlecht.
Aber bevor jemand fragt: “Nächstes Jahr? Egal wann? Oh, tut mir Leid, da hab ich leider echt gar keine Zeit…”